Sich an Regeln halten – oder lieber nicht?

Wir denken derzeit, dass alle Corona-müde sind, dass man der Regeln überdrüssig ist, dass die Menschen die Einschränkung nicht mehr aushalten.

Aus vielerlei Gesprächen tritt mir aber ein zusätzliches, irrationales, aber darum nicht weniger wirksames und damit sehr gefährliches Argument zum Umgang mit Corona-Regeln und -beschränkungen bzw. zu deren Nicht-Befolgung entgegen:

Wenn ich mich selbst an Regeln halte und die meisten anderen nicht, dann habe ich persönlich an zwei Stellen Nachteile und die anderen nur an einer Stelle. Das ist so ungerecht, dass ich auch die Motivation verliere, mich an die Regeln zu halten.

Die Argumentation läuft dabei wie folgt:

Erstens: Ich muss es aushalten, mich einzuschränken und Verzicht zu leisten, und das alles aus einer reinen und meistens nicht im Alltag erlebten Verstandes-Einsicht heraus: Es besteht eine (nicht spürbare) Gefahr, vor der ich mich schützen sollte.

Zweitens: Durch das unvernünftige Verhalten der anderen, die es nicht einsehen sich einzuschränken, habe ich trotz der eigenen Einschränkungen (= 1. Nachteil) ein hohes bzw. zunehmend erhöhtes Ansteckungsrisiko (= 2. Nachteil). Die anderen gehen zwar freiwillig ein erhöhtes Ansteckungsrisiko ein (= nur eine Nachteil), ohne den Preis zu hoher Einschränkungen aushalten zu müssen.

Es ist ungerecht und eventuell unerträglich, dass ich selbst mehr Einschränkung hinnehmen muss, als alle anderen, ohne davon (durch ein geringeres Ansteckungsrisiko) zu profitieren.

Inhaltlich ist diese Einstelllung mindestens fragwürdig oder sogar unsinnig: Natürlich hat man ein geringeres Infektionsrisiko, wenn man sich in den eigenen Kontakten einschränkt und die Hygiene-Regeln einhält, völlig unabhängig vom Verhalten der anderen. Richtig ist allerdings auch, dass das eigene Risiko auch vom Verhalten der anderen abhängig ist: Je mehr Menschen die Hygiene-, Abstands- und Kontaktbeschränkungsregeln einhalten und je sorgfältiger sie dieses tun, desto sicherer ist auch jeder einzelne.

Der Umkehrschluss hingegen ist erkennbar falsch: Nur weil sich zu wenige Leute an die Regeln halten, ist es eben nicht egal, wie man sich selbst verhält! Zwar ist man bei eigenem, sicheren Verhalten und unsicherem Verhalten aller anderen nicht so sicher, wie man sein könnte. Aber man ist trotz falschen Verhaltens der anderen immer noch sicherer, wenn man für sich selbst alle Maßnahmen einhält, als wenn man dies nicht tut!

Dennoch ist die Argumentation psychisch für viele scheinbar schlüssig, auch wenn sie sachlich unsinnig (= das Infektionsgeschehen betreffend) ist. Und damit ist sie ausschlaggebend für das eigene Verhalten vieler!

Die erlebte Ungerechtigkeit ist so groß, dass aller Vernunft zum trotz, man sich lieber selbst in eine erhöhte Gefahr bringt, als auszuhalten, dass alle anderen weniger eingeschränkt leben, als man selbst.

Wenn das alle machen bzw. einfach „nur“ zahlenmäßig um sich greift, dann wird es schwierig sein, das Corona Ansteckungsgeschehen jemals in den Griff zu bekommen.

Ängste und soziale Isolation: eine ganz prekäre Mischung!

Was tun Menschen, wenn sie unter Druck geraten? Sie sprechen mit anderen Menschen.

Wozu? Um genauer herauszufinden, wie es ihnen selbst geht, um sich zu erleichtern, um Hilfen zu bekommen. Was heißt das etwas genauer?

  1. Um ihre Gedanken in Worte zu fassen, um sie zu schärfen, um diese sich selbst vor Augen zu führen und um sie zu überprüfen.
  2. Um sich mehr Klarheit über die eigenen Gefühle zu verschaffen: Indem man die eigenen Gefühle formuliert, bekommt man sie auch selbst besser zu fassen, versteht besser, was man wirklich fühlt, statt nur eine allgemeine Aufregung und Beunruhigung in sich festzustellen (arousal).
  3. Indem man über Gefühle spricht, kann man diese auch ein Stück abarbeiten und beruhigen. Gefühle zum Ausdruck zu bringen, stellt bereits ein erstes Ventil für die eigenen Emotionen dar, reduziert die mit den Gefühlen einhergehende (An-)Spannung.
  4. Sorgen zu teilen, hilft, indem man Anteilnahme und Trost findet, indem man sich mit dem eigenen Zustand nicht allein oder verkehrt fühlt, man sich angenommen erleben kann.
  5. Weitergehend bekommt man vielleicht Tipps , wie man mit konkreten Dingen umgehen kann, wie man sich mit starken Gefühlen wieder selbst auffangen und beruhigen kann.
  6. Schließlich kann der soziale Kontakt Orientierung bieten und sogar konkrete Unterstützung und Hilfe bedeuten.

Angst ist ein starkes Gefühl, das uns sehr unter Druck setzt, und das psychisch wie körperlich sehr beeinträchtigend und gesundheitlich schnell bedrohlich werden kann.

Angst entsteht, wie in der jetzigen Corona-Krise, gerne dann, wenn man sich einer Situation ausgesetzt erlebt, die man nicht versteht, die man in ihren Konsequenzen nicht gut überblicken kann, der man nicht ausweichen und sich in Sicherheit bringen kann, auf die man nicht oder nur sehr bedingt einwirken kann und deren Inhalt potentiell bedrohlich ist, hier z.B. gesundheitlich und/ oder finanziell.

Wir leben mit Corona also in einer grundsätzlich Angst auslösenden Situation, gleichzeitig sollen wir uns in eine relativ große Isolation zurückziehen, um Ansteckungen zu vermeiden und die Ansteckungswelle der Gesamtbevölkerung zu verlangsamen.

Das bedeutet aber gleichzeitig, dass wir all das, was wir in sozialen Beziehungen suchen und brauchen, also sich selbst zu verstehen und sich selbst besser auffangen und regulieren zu können, jetzt nur reduziert und unter erschwerten Bedingungen leben können.

Der Druck/ die Angst ist also erhöht, die normalen menschlichen Methoden, sich zu erleichtern und sich wieder wohler und sicherer fühlen zu können, sind gleichzeitig reduziert.

Das führt innerpsychisch bei jedem einzelnen von uns zu erhöhtem Druck , Spannungszuständen bis hin zu Schlafstörungen, die dann wiederum gereizter machen und die individuellen Kompetenzen, Gefühle zu regulieren, weiter reduzieren.

Die heutigen, Medien vermittelten Formen der Kommunikation, sorgen hier durchaus für eine gewisse Abhilfe; viele Menschen berichten aber, dass dies nicht so hilfreich ist, wie ein unmittelbarer, persönlicher Kontakt zu anderen Menschen und eben nicht ausreicht.

Gleichzeitig sitzen Menschen in Familien und WGs mehr denn je auf engem Raum zusammen, so dass sich hier Spannungen auch zwischenmenschlich aufbauen und zunehmend eruptiv entladen. Zwar mag ein solches „Gewitter“ ein wenig den Druck reduzieren, aber das Gesamtsystem einer Familie oder Gruppe kann dadurch dennoch eher mehr unter Druck geraten, weil die Entladung des einen das steigert, was das Gegenüber aushalten und verdauen muss. Diese Konflikte oder Ausbrüche fackeln also schon etwas ab beim einzelnen, bieten aber für das Miteinander keine nachhaltige Entlastung.

Eine Hilfe im Sinne eines Rezepts, wie man mit diesen gegenläufigen, sich ungünstig ergänzenden Tendenzen umgehen könnte, um die negativen Konsequenzen zu vermeiden oder klein zu halten, gibt es nicht, auch wenn viele tolle Ratschläge dazu im Netz kursieren. Überhaupt ist es meistens so, dass simple Ratschläge und Tipps bestenfalls kurzfristig einen Nutzen haben, und wenn er nur darin liegt, dass man glaubt man habe jetzt wieder Kontrolle und Einfluss zurückgewonnen.

Es hilft aber dennoch ein wenig, um der ein oder anderen Situation die Spitze zu brechen und das Ausmaß erträglicher und sozial verträglicher zu halten, wenn man sich über die Zusammenhänge im Klaren ist und sich nicht unvorbereitet mit starken eigenen Gefühlen oder schwer verdaulichen Verhaltensweisen anderer konfrontiert sieht.

Es gibt selten Patentrezepte, wenn es um Gefühle und konflikthaftes menschliches Miteinander geht. Man muss sich meist durch konkrete Alltagssitautionen durchbeißen und einen jeweils möglichst sinnvollen Weg finden bzw. herstellen. Um neue Methoden entdecken zu können und um sich neue Verhaltensweisen trauen zu können, ist es hilfreich, die jeweilige Situation bzw. den Gesamtzusammenhang besser zu verstehen, weil man dadurch klarer einschätzen kann, womit man es zu tun hat. Je deutlicher ich z.B. sehen kann, dass ein bestimmtes, überschießendes Verhalten mir gegenüber gerade gar nicht aus der aktuellen Situation stammt, sondern sich aus einem aufgestauten Pulverfass aus der allgemeinen Lebenssituation der letzten Tagen und Wochen speist, desto eher mag es einem gelingen, eine Gewisse Toleranz und Gelassenheit zu wahren. Wenn es denn gut geht 😉

Wem steht was zu: dem akut Bedürftigen oder dem, der vorgesorgt hat?

Eine spannende, sicherlich der philosophischen Disziplin der Ethik zugehörende, Grundsatzfrage als Exkurs:

Darf derjenige, der über (lebens-)notwendige Güter verfügt, diese für sich behalten, sie auch für eine mögliche aber noch nicht bestehende eigene Krise aufbewahren, oder darf man ihn dazu zwingen, diese abzugeben (gegen eine Entschädigung selbstverständlich), wenn die Allgemeinheit oder ein aktuell Bedürftiger darauf angewiesen ist?

Aktuell wäre hierbei an Atemmasken, Desinfektionsmittel, Beatmungsgeräte und ähnliches zu denken.

Aber man kann sich das Dilemma auch an kleineren und größeren Alltagsthemen vor Augen führen:

Was ist mit demjenigen, der rechtzeitig genügend Klopapier bevorratet hat unmittelbar als die Krise begann?

Und was mit dem, der schon seit Jahren oder Jahrzehnten Vorräte für mögliche Notfallsituationen angelegt hat und, durchaus mit hohen Kosten verbunden, immer erneuert und seinen Bestand gepflegt hat, sogenannte Prepper?

Oder auch derjenige, der sein Leben lang in eine (vielleicht sogar private, zusätzliche) Altersvorsorge eingezahlt hat, im Unterschied zu demjenigen, der denkt, dass er im Alter sowieso zu wenig haben und deshalb auf Grundversorgung angewiesen sein wird. Dies alles vor dem Hintergrund einer neu aufgeflammten Diskussion um ein voraussetzungsloses Grundeinkommen.

Und jetzt nochmal ‚in schwierig‘ am Beispiel einer denkbaren Corona-Triage:

Was ist, wenn es zwei Patienten gibt, die beatmet werden müssen: Der eine ist Mitte 70, insgesamt relativ gesund und hat sich lebenslang mit Sport, Ernährung und Suchtmittelfreiheit um eine größtmögliche körperliche Geusndheit bemüht, hat aber einen schweren Krankheitsverlauf, der andere ist ca. 30, und hat den schweren Verlauf aufgrund langfristig ungesunder Lebensweise, schlechter Ernährung, v.a. aber starken Rauchens. Ist jetzt der Letztere selbst Schuld und der Erste hat nur Pech? Wenn der Zweite selbst Schuld ist, hat der dann weniger Anrecht auf Hilfe und auf Leben? Ach ja, und dann kommt noch hinzu: Ist der Zweite denn wirklich selbst schuld oder ist Nikotin-Konsum eine Sucht und damit eine Krankheit, also etwas wofür man keine Verantwortung trägt? Muss man mehrere Versuche nachweisen, dass man versucht hat aufzuhören, und dies aufgrund des Suchtcharakters nicht gelungen ist, um zu belegen, dass man nicht einfach Genussraucher ist, sondern abhängig? Hätte man als Genussraucher, also nicht süchtiger Mensch, ja jederzeit aufhören können und ist deshalb dann doch selbst schuld am schlechten Gesundheitszustand und hat deshalb weniger Anrecht auf lebenserhaltende Maßnahmen?

Die Ärzte versuchen gerade das Konstrukt zu operationalisieren, d.h. in konkrete Handlungsleitlinien zu gießen, dass die Erfolgsaussichten der Behandlung an erste Stelle als Kriterium der Zuweisung der lebenserhaltenden Behandlung setzt. Das klingt so schön neutral im Sinne davon, dass es unabhängig von Schuld und Verantwortung des hilfebedürftigen Patienten zu sein scheint. Aber was, wenn dies im konkreten Fall nicht abzuschätzen bzw. nicht zu unterscheiden ist?

Hier gibt es viele Argumente für jeweils beide Seiten. Ungerecht behandelt fühlen sich wahrscheinlich auch beide Seiten.

Hierzu würde mich eine rege Diskussion von Lesern brennend interessieren.

Triage und geschlossene Grenzen: Eine Frage des Mitgefühls?

Geschlossene Grenzen, ein Ausfuhrverbot von Infektions-Schutzkleidung, die Haltung, dass jedes europäische Land selbst schauen muss, wie es intensiv- bzw. beatmungspflichtge Patienten versorgt bekommt (erst in den letzten Tagen gibt es in extrem kleinen Zahlen Aufnahmen aus dem Ausland stammender Intensiv-Patienten in Deutschland): Das alles wird im großen und ganzen richtig gefunden. Jedes Land kämpft für sich mit „dem Feind“ Corona.

Auch das Flüchtlinge nicht ins Land kommen dürfen, zumindest nicht in großen Zahlen, nicht unkontrolliert, nicht jeder, der will, nicht einfach Wirtschaftsflüchtlinge, die doch in der Sicht mancher nur ein finanziell besseres Leben suchen und höchstens von Armut und eventuell Hungersnot bedroht, aber eben nicht politisch verfolgt sind, ist in großen Teilen konsensfähig. Dass bis heute im Mittelmeer Menschen ertrinken, die versuchen in Europa ein besseres Leben zu finden, regt kaum noch jemanden auf.

Aber wenn im Land selbst die Gefahr besteht, dass nicht alle Bedürftigen ausreichend (intensivmedizinisch) versorgt werden können, wir alle lernen das neue Wort „Triage“ und das zugehörige Verb „triagieren“, das meint, dass Ärzte bei zu knappem Versorgungsangebot auswählen müssen, wer versorgt wird und wer unversorgt zum Sterben „verurteilt“ wird, dann entsteht Entsetzen und Unverständnis, warum es in unserem reichen Land nicht genügend Ressourcen gibt.

Wolfgang Niedecken hat es einmal in einer Fernseh-Diskussionsrunde ebenso prägnant wie in der Sache unerfreulich auf den Punkt gebracht: Das Leben eines schwarzen Menschen, der im Mittelmeer ertrinkt ist unseren europäischen Gesellschaften nicht so viel wert, wie das Leben von weißen Europäern, die vor Skandinavien auf einem Kreufahrtschiff in Seenot geraten und mit unglaublichem Aufwand bis hin zu waghalsigen, aufgrund der Wetterlage gefährlichen Hubschraubereinsätzen, evakuiert werden.

Ich frage mich: Worin besteht eigentlich der Unterschied? Sind Menschen, die man weiter weg mit ihrem, auch zum Teil tödlichen Schicksal alleine lässt, weniger in Not, weniger betroffen oder weniger leidend, als ein Mensch in Deutschland?

Ich glaube und hoffe, dass der Unterschied für viele Europäer tatsächlich nicht zu allererst in der unterschiedlichen Hautfarbe besteht.

Wenn der Unterschied darin bestünde, dass es sich um Menschen handeln würde, die man kennt, einen Nachbarn oder entfernten Verwandten, das wäre ja unmittelbar nachvollziehbar, aber das ist ja in den wenigsten Situationen der Fall.

Hier kommt zum einen ein Identifikationsmechanismus zur Wirkung: Je ähnlicher ich mich einem anderen Menschen fühle, je mehr dessen Lebenssituation und Schicksal an eigene Erfahrungen rührt, desto eher werden eigene Erinneringen und Gefühle aktiviert. Das muss noch nicht einmal heißen, dass ich mich diesem anderen Menschen stärker verbunden fühle oder mehr Mitgefühl mit ihm habe. Ich selbst werde intensiver bewegt, weil eigene Persönlichkeitsanteile und Erfahrungen in Resonanz geraten. Hierdurch fühle ich mich der Situation/ dem Geschehen näher, nicht zwangsläufig dem anderen Menschen.

Zum anderen müssen hier wahrnehmungspsychologische Aspekte berücksichtigt werden: Sinnliche Wahrnehmbarkeit hat einen entscheidenden Einfluss darauf, ob eigene Erlebnisse und die damit verbundenen Gefühle angeregt werden: Bilder aus italienischen Krankenhäusern sind bewegend aber reichen dann eventuell nicht aus, um sich verbunden zu fühlen und gar nicht anders zu können, als Hilfe zur Verfügung stellen zu wollen. Dagegen kann der Rettunsgwagen in der eigenen Straße, der mit lautem Martinshorn vorgefahren ist, der Nachbar, mit dem man sich so oft unterhalten hat und der jetzt hilflos auf einer Trage mit Atemmaske auf dem Gesicht aus dem Haus getragen wird, dessen Angehörigen, die weinend und fassungslos herumstehen, verschiedene Sinneskanäle in uns erreichen, die mit vielen eigenen Erlebnissen in Verbindung stehen. Dies fördert die Stärke unserer Erinnerungen und die Wahrnehmung unserer Emotionalität. Das erreicht uns stärker und tiefer.

Mitgefühl in diesem Sinne ist also nur zum Teil ein Fühlen, das auf das Gegenüber bezogen ist, es ist zum anderen Teil eher ein Fühlen seiner selbst, das durch das Schicksal des Gegenübers ausgelöst worden ist.

Das klingt vielleicht sehr unromantisch, und ich möchte auch gar nicht die jeweiligen Anteile in ihrem Ausmaß beziffern; dass dieser Anteil am Mitgefühl aber vorhanden ist, ist psychologisch nicht zu übersehen.

Beziehungen neu erleben

Verschiedene Menschen beschreiben mir, dass sie Beziehung zu Freunden und Bekannten unter dem Eindruck der Einschränkungen durch Corona auf eine neue Art erleben.

Dies verwundert einen zunächst einmal nicht, sind doch viele Umgangsmöglichkeiten stark eingeschränkt oder verändert: man kann nicht mehr abends ausgehen, man darf sich nicht in Gruppen treffen, man darf mit nicht mehr als einer fremden Personen im Freien angetroffen werden etc. etc.

Gerade in einer Zeit, in der der Medien vermittelte Kontakt ungeheuer einfach, allgemein zugänglich und eingeübt alltäglich zum Leben gehört, könnte man annehmen, dass viele Menschen zumindest in den ersten Wochen der oben umrissenen Kontakteinschränkungen keinerlei Probleme damit haben, ihre sozialen Bedürfnisse Medien vermittelt auszuleben und zu befriedigen.

Bereits nach dieser kurzen Zeit der Einschränkungen, die wir durch gesetzliche Regelungen jetzt seit ungefähr zehn Tagen haben, bemerken die Menschen aber, dass sich nicht nur die äußere Form der Kommunikation verändert hat.

Einige Menschen berichten, dass sie zwar jede Möglichkeit besitzen, Medien vermittelt den Kontakt zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis aufrechtzuerhalten und dies auch in den letzten Tagen getan haben, dass sie aber ebenfalls bemerken, darauf von Tag zu Tag weniger Lust zu haben.

Zum einen fehlen, wie zu erwarten, bestimmte Freizeitbeschäftigungen, zum Beispiel gemeinsamer Sport oder gemeinsam auszugehen, was für viele offenkundig schmerzlich ist.

Zum anderen kommt aber etwas in den Blick, was unerwartet war: medienvermittelte Kommunikation, auch dann wenn sie eventuell per Video-Chat realisiert wird, ist sehr auf Sprache angewiesen. Nun wird mehr und mehr bemerkt, dass Sprache, vor allen Dingen dann, wenn sie nicht einfach nur Begleiterscheinung eines anderen Tuns ist, Inhalt braucht.

Inhalt wiederum mindestens ein solcher, der eine gewisse erlebte Bedeutung zum Ausdruck bringen und zum Gegenüber transportiert werden soll, hat offenbar Erlebnisse als Ursache, über die man etwas mitteilen oder über die man sich austauschen möchte.

In der relativen Zurückgezogenheit durch die Corona-Einschränkungen gibt es nun einen Mangel an Alltagserlebnissen, viele von uns haben nicht einmal mehr ihren Berufsalltag und die dort vorkommenden Erlebnisse mit Kollegen, Vorgesetzten oder Abläufen, (fast) alle von uns haben deutlich reduzierte Freizeiterlebnisse, eben weil viele Betätigungen derzeit nicht zur Verfügung stehen. Lebt man zurückgezogen in einem familiären Kreis, so spielen sich hier jetzt sicherlich sehr viel mehr bedeutsame Situationen ab als im sonstigen Alltag, worüber sich dann mit Außenstehenden, also zum Beispiel Freunden, reden ließe und auch ein Bedürfnis danach vorhanden sein dürfte. Lebt man aber alleine, und der Anteil von Singles in unserer Gesellschaft ist sehr hoch, so hat man auch hier keinerlei Erlebnisse, die man mitteilen, verarbeiten oder sich darüber einen Rat einholen möchte.

Es gibt viel zu wenig, über das man mit jemandem reden möchte.

Welchen Sinn sollte es dann haben, Medien vermittelt Kontakt zu einem Freund oder einem Bekannten aufzunehmen?

An diesem Punkt sind offenbar bereits nach dieser extrem kurzen Zeit viele Menschen angekommen.

Dies zeigt zum einen, wie sehr uns unsere Alltagsablenkungen Anlass zur Kommunikation geben, man könnte aber auch sagen, wie sehr uns unsere Alltagsablenkungen davon abhalten, eine andere Form von Kommunikation zu führen.

Was könnte denn die Alternative sein? Was ist mit einer anderen Form von Kommunikation gemeint?

Nun, man könnte auch über andere Dinge sprechen, als über Alltagserlebnisse. Es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, über aktuelle Alltagserlebnisse mit anderen Menschen zu sprechen, aber wenn dies einen solchen Umfang annimmt, dass man über sich selbst nicht spricht, über seine Gedanken, seine Bedürfnisse, seine Ängste und Gefühle, dann könnte man zumindest den Verdacht haben, dass hier wesentliche Möglichkeiten einer intensiven Begegnung zwischen Menschen zu kurz kommen.

Positiv formuliert: Vielleicht könnte uns die Corona-Krise dabei helfen, eine andere, intensivere, tiefere Formen der Kommunikation und der Begegnung zwischen Menschen wieder zu entdecken. Spüren wie es einem selbst geht, herausfinden, was man denkt und wirklich will, und darüber mit anderen Menschen in Austausch treten. Dies ist nicht immer leicht, macht vielleicht Angst, wird Beziehungen auch auf die Probe stellen; sollte dies aber gelingen, so darf man sehr sicher davon ausgehen, dass Beziehungen durch solcherart Kommunikation und Selbst- und Fremdwahrnehmung intensiver werden und sich dadurch die Bindung an andere Menschen verstärkt.

Corona als Angriffswaffe

Ich erfahre gehäuft von Situationen, in welchen Menschen verbal oder durch Taten damit drohen, ihr Gegenüber mit Corona zu infizieren.

So berichtet mir zum Beispiel ein Bekannter, der an einer Tankstelle einen anderen Kunden gebeten hat, einen Schritt zur Seite zu gehen, damit er mit dem nötigen Sicherheitsabstand durch die Eingangstüre treten könnte, dass dieser andere Kunde sich wortlos zu ihm umgedreht und ihn mit willentlich hervorgebrachtem Husten angehustet hat.

Hier hat sich ganz offensichtlich jemand geärgert, nämlich darüber, angesprochen und vielleicht auf ein Fehlverhalten im Sinne einer mangelnden Rücksichtnahme aufmerksam gemacht  worden zu sein, und hat diesen Ärger in eine Handlung umgesetzt. Vor wenigen Wochen hätte dieser Mensch vielleicht gesagt: „Lass mich in Ruhe!“ oder „Du Idiot!“, in extremeren Fällen hätte sich vielleicht dem anderen noch mehr in den Weg gestellt oder ihn gar zur Seite geschubst.

Aggressives Verhalten hat hier offenbar ein neues Gesicht gefunden: Egal ob man nun selbst infiziert ist oder nicht, man kann einen anderen in Sorge eventuell auch in Angst versetzen, in dem man ihn an hustet, und dieser sichin der nächsten Zeit davor fürchten muss, ob er nun mit Corona infiziert ist oder nicht. Sollte der Huster darum wissen, dass er infiziert ist, erfüllt dieses Verhalten wahrscheinlich sogar den Tatbestand einer vorsätzlichen Körperverletzung.

Was spielt sich hier nun psychologisch ab?

Ärgernisse und Frustrationen, die zu erlebten Aggressionenund in der Folge zu aggressivem Verhalten führen, hat es im Alltag zu jeder Zeit und an jedem Ort gegeben. Die Art und Weise, wie diese Aggressionen ausgelebt werden, unterscheidet sich selbstverständlich nach Kultur, hier insbesondere danach, welche kulturellen Formen und Vorbilder im Alltag vorgelebt und wahrgenommen werden, nach individueller Persönlichkeit und natürlich auch nach der aktuellen Situation. Man kann nahezu alles auch zu einer individuellen Angriffswaffe ummünzen, hier wird sich die allgemein bestehende Angst vor einer Corona-Infektion zu Nutze gemacht, um einem anderen Menschen Angst einzujagen.

Irgendwie hat dieses Verhalten den Charakter einer Bestrafung und/oder eines Erziehungsversuches: Du sollst lernen, wenn du mir so begegnest (mich belehrst, mich auf ein Fehlverhalten aufmerksam machst bzw. glaubst, mir Befehle erteilen zu können), dann geht es dir hinterher schlecht, weil du Angst haben musst, und du sollst lernen, mir nie wieder so entgegenzutreten!

Aggressionen dieser Art waren und sind im Alltag leider überall anzutreffen, die konkrete Ausgestaltung, hier die Angst vor einer Corona-Infektion zu instrumentalisieren und damit tatsächlich jemanden in Gefahr zu bringen, ist der Situation geschuldet neu, und das Ausmaß der realen Gefahr unberechenbar und damit größer, als wenn jemand einen anderen als Idioten tituliert oder sogar ihn schubsen würde; niemand von uns kann wissen, ob er aktuell gerade ansteckend sein könnte, und noch weniger kann man wissen, ob das Gegenüber einer Risikogruppe angehört und durch eine Infektion tatsächlich in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten bzw. sein Leben verlieren könnte.

Angstreduktion durch Pseudo-Kontrolle

Es gibt nach übereinstimmenden Beobachtungen Menschen, wohl eher Männer als Frauen, die durch die Gegend laufen, herum husten und dabei laut Corona rufen.

Es ist offensichtlich, dass dieses Verhalten anderen Menschen Angst machen soll, wenngleich diese Menschen wahrscheinlich behaupten würden, es handele sich um einen Scherz.

Psychologisch betrachtet könnte man dagegen auf die Idee kommen, dass es sich hier um weit mehr als einen Scherz handelt, sondern um die Verarbeitung eines eigenen psychischen Themas. Was läge näher, als anzunehmen, dass es sich hierbei um eigene Angst handelt.

Angst ist ein unangenehmes, schwer auszuhaltendes Gefühl, und jeder ist bestrebt, erlebte Angst zu reduzieren.

Könnte es sich bei diesem Verhalten also um einen Versuch von Angstreduktion handeln?

Ja, sicher, und zwar gemäß eines sehr einfachen und sehr häufig anzutreffenden Mechanismus:

Es handelt sich dabei um eine passiv-aktiv Wendung: Die eigene Angst entsteht aufgrund einer mehr oder weniger diffusen Bedrohung, hier einer möglichen Corona-Infektion, und der Tatsache, dieser Bedrohung hilflos und ohnmächtig ausgeliefert zu sein.

Wenn es mir gelingt, anderen vor dieser Bedrohung Angst zu machen, am besten mehr Angst als ich selbst davor habe, dann werte ich mich zum einen damit auf, weil ich mir vor Augen führen kann, weniger ängstlich zu sein als andere, vor allem aber bin ich nicht mehr ausgeliefert und hilflos, sondern ich kann aktiv etwas tun, ich habe wieder Handlungsspielraum, mit anderen Worten: Kontrolle, hinzugewonnen.

Dieser Spielraum hat zwar nichts mit einer Absicherung gegen eine mögliche Infektion zu tun oder auch nur damit, diese unwahrscheinlicher zu machen, aber er hat den eindeutigen psychischen Vorteil, aus einer Handlungsunfähigkeit herauszukommen und überhaupt irgendetwas tun zu können; ähnlich wie beim übertriebenen Kauf von Toilettenpapier (siehe unten).

Wenn dieser Zugewinn von Handlungsmöglichkeit nicht allein irgendein, mehr oder weniger sinnloses, Tun ist, sondern sogar direkt oder indirekt mit dem angstauslösenden Thema verknüpft ist (jemandem vor derselben Sache Angst machen, Vorräte horten), ist der Effekt der Angstreduktion noch gesteigert.

Offenbar sind wir Menschen so gestrickt, dass dieser innerpsychische Vorteil, zu der der Angstreduktion, so attraktiv ist, dass er Vorrang hat vor Rücksichtnahme und sozialverträglich im Umgang.

Ob man das sympathisch findet oder nicht, mag dahingestellt sein; als Psychologe muss man zunächst einmal versuchen, die sich zeigenden Phänomene zu beschreiben und sie in einen verstellbaren Zusammenhang einzuordnen.

theoretischer Exkurs: Neu fühlen lernen? Ein anstrengender Denkanstoß

In direkter Übersetzung dessen, was Immanuel Kant über das Wesen der Aufklärung geschrieben hat, möchte ich dessen Gedanken über den „Gebrauch der Vernunft“ auf das Vermögen des Menschen zu fühlen anwenden:

Kant schrieb über die Aufklärung und den Gebrauch des Verstandes:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. “

Über das Fühlen könnte man analog Folgendes entwerfen:

Selbstverständnis/ Selbsterkenntnis/ Fühlen-Lernen ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Selbstentfremdung.

Selbstentfremdung besteht darin, dass wesentliche Teile, die zu einem gehören, unzugänglich sind und in der Folge entweder verkümmern oder ein unkontrolliertes Eigenleben zu führen beginnen.

Selbstverschuldet ist diese Selbstentfremdung, wenn der Mensch fürchtet, seine Gefühle differenziert wahrzunehmen und sie stattdessen lieber verleugnet oder verdrängt.

Sentire aude! Habe Mut dich aus deiner selbstverschuldeten Selbstentfremdung herauszuentwickeln und fühlen zu lernen!

und psychoanalytisch möchte man hinzufügen:

Habe wenigstens den Mut herauszufinden, warum du nicht differenzierter fühlen kannst oder willst, um dadurch wenigstens eine wirkliche Entscheidung zu haben, ob das so bleiben soll oder ob du etwas ändern willst.

Mehr Zeit, weniger Geld: Was tun?

Ist das wirklich ein Problem? Offenkundig schon!

Wenn man daran gewöhnt ist, freie Zeit mit Konsum zu verbringen oder mit geselligem Sport (Verein, Fitness-Studio) dann steht man vor einer Umorientierung, wenn diese Möglichkeiten samt und sonders nicht mehr gegeben sind.

Yoga und Meditation allein zu Hause? Ja, geht, aber nur vorübergehend, ein paar Tage lang. Dann fehlt der Austausch, der Plausch, die menschliche Ablenkung.

Es gibt eine deutlich wahrnehmbare Tendenz, dass auch die sozialen Kontakte entweder mit entfernten Menschen ausgelebt oder ebenfalls, stellvertretend vorgelebt, nur konsumiert werden: Ganze Youtube-Kanäle leben davon, dass Alltag im Vollzug einfach abgefilmt wird, oder dass Themen wie: zuerst Wasser oder zuerst Zahnpasta auf die Zahnbürste, isst man Nuss-Nougat-Creme mit oder ohne Butter drunter, was macht man so alles beim Masturbieren oder welche Technik hat man nach dem Stuhlgang, um seinen Allerwertesten wieder sauber zu kriegen.

Ich will damit gar nicht sagen, dass diese Themen grundsätzlich keine Daseinsberechtigung hätten. Die spannende Frage ist doch: Warum wird dies öffentlich bw. mit weit entfernten Menschen ausgelebt und nicht in Alltagsbeziehungen, Familie, Freundeskreis, Bekannte. Zum einen sind dies sicherlich schambesetzte Themen, von denen man vielleicht nicht möchte, dass ein Gegenüber, dem man im Alltag immer wieder begegnet, diese Dinge über einen weiß und im Hinterkopf hat. Zum anderen könnte hier gerade eine Vermeidung von Nähe eine Ursache sein. Wissen, reden, Auseinandersetzung schafft Bindung und damit in gewisser Weise Abhängigkeiten. Vor diesen scheint man zurückzuweichen. Auf Vermutungen über Hintergründe komme ich weiter unten zurück.

Wenn Paare und Familien daran gewöhnt sind, Auseinandersetzungen oder gar Streit dadurch zu vermeiden oder zu beenden, dass man sich aus dem Weg geht, und sich abreagiert, indem man sich etwas „gönnt“, d.h. sich einen neuen Gegenstand kauft, oder indem man im Fitness-Studio seinen Körper stählt, dann haben diese nun ein Problem. Die eingeübten Strategien sind nicht mehr zugänglich, weil verboten, neue Strategien sind zum einen nicht verfügbar und machen zum anderen, oder gleichzeitig, Angst: Wie kann man einen Streit ausfechten, ohne die Strategie, verbrannte Erde zu hinterlassen, den anderen eine Weile zurückzulassen und dann (beiderseits) wieder aufeinander zu treffen und so zu tun, als sei gar nichts passiert.

Die naheliegende Alternative scheint ungewohnt ohne echte Vorbilder und vor allem bedrohlich zu sein.

Welche Alternative? Sich mit sich selbst wirklich auseinanderzusetzen statt sich immerzu abzulenken. Sich mit den nahestehenden Menschen, mit denen man auch bei Corona zusammen ist, weil man mit ihnen zusammen lebt, dem Partner, den Familienangehörigen, zu beschäftigen, sich für diese wirklich zu interessieren, zu wagen, sich noch einmal neu kennenzulernen, auch mit den schwer verdaulichen Seiten, aber auf jeden Fall umfassender, tiefer und intensiver.

Was in aller Welt ist eigentlich so bedrohlich daran, wirklich zu fühlen, statt sich abzulenken und sich fremd-organisierte Pseudo-Erlebnisse zu verschaffen?

Gefühle sind anstrengend, sind beunruhigend, lassen sich nicht gut steuern. Man kann Gefühle allgemein klein halten, indem man sich ablenkt, indem man gleichsam den Vordergrund der eigenen Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ständig mit (käuflichen) Erlebnissen füllt, so dass eigene Gefühle in den Hintergrund geschoben werden. Hier kann man noch mit der ein oder anderen Chemie (Alkohol, Drogen, zweckentfremdete Psychopharmaka) nachhelfen, was das ganze erleichtert.

Eigene (und auch fremde) Gefühle zuzulassen, ihnen Raum zu geben, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ist anstrengend, nicht wirklich kontrollierbar, manchmal überwätigend oder auch Angst machend, aber auf jeden Fall bereichernd: Man lernt abgespaltene Teile von sich kennen, wird vollständiger, kann eigene Bedürfnisse, und zwar die grundsätzlichen, echten, besser kennenlernen und dadurch überhaupt erst berücksichtigen

Wie? Nun, da gibt es viele Möglichkeiten: Sich Zeit nehmen, sitzen, nichts tun und in sich reinhören, ist dabei die simpelste Herangehensweise. Man kann Gefühle durch geeignete Atemübungen verstärken, man kann sich mit anderen darüber austauschen etc.

Eine neue Wunderwelt könnte sich hier auftun, aber nicht ganz ohne unerwartete Nebenwirkungen und Stolperstellen. Es kann aber sein, dass gerade diese Letzteren wichtiger und entwicklungsträchtiger sind, als die erhofften, „schönen“ Seiten.

Quarantäne und Familien-Streit

Selbstverständlich gibt es in Familien mehr Spannungen und Streit, wenn alle mehr oder weniger zu Hause sein müssen aufgrund von Schulschließungen, Ausgangseinschränkungen oder Ähnlichem.

Das lässt sich überhaupt nicht vermeiden, aber ist das denn so schlimm?

Eine wesentliche Methode innerfamiliärer Streitvermeidung besteht in unserer modernen Kultur darin, dass alle Mitglieder einzelnen Interessen und Beschäftigungen nachgehen und man möglichst wenig Berührungs- und Reibungspunkte hat.

Nähe und Intensität von Beziehung bringt Reibung mit sich.

Auseinandersetzungen lassen sich reduzieren, wenn man sich weiträumig aus dem Weg geht.

Letzteres bedeutet aber Abstand, nebeneinander herleben, Desinteresse.

Innigkeit kann ungeheuer bereichern, aber es werden dann auch Differenzen spürbar.

Um an dieser Stelle eine späte Weisheit von Bud Spencer, den man normalerweise nicht verdächtigt, ein großer Philosoph gewesen zu sein, einfließen zu lassen:

Er sagte in einem Interview, dass Auseinandersetzungen nicht dazu da seien, zu gewinnen, sondern dazu, sich selbst besser kennenzulernen.

Erst in den Reibungen spürt man, wo man selbst aufhört und der andere anfängt, und wie wichtig ein Gegenüber ist, um sich selbst überhaupt spüren zu können.

Man möchte hinzufügen, dass Auseinandersetzungen, neben und trotz aller erwünschten Anteile eines Miteinanders, eine nicht zu unterschätzende Quelle von Bindung untereinander darstellen.